documenta15 - ein Missverständnis?!

Micha | 15.08.2022

Meine Gedanken als einfacher Besucher

Ich war, zusammen mit einer lieben, ausstellungserprobten und deutlich mehr als kunstaffinen Freundin, für zwei Tage auf der documenta15. Innere Bilder und Eindrücke sind mir immer noch sehr präsent und ich habe seitdem ein paar Nächte darüber geschlafen. Ich werde vielerorts und allenthalben gefragt, wie es denn war und es fällt mir (immer noch) schwer, darauf eine Antwort zu geben, insbesondere eine kurze, zusammenfassende Antwort.

Drei Fragen drängen sich auf. Zunächst die Naheliegendste, nämlich was das künstlerische Wesen der documenta15 ausmacht. Dann stellt sich wohl jede:r Besucher:in nach dem Besuch die Frage, was denn nun mit der Kunst sei oder vielleicht auch wo? Und zuletzt, man hat keine wirkliche Lust auf sie, die Frage nach dem Antisemitismus.

Lumbung und Harvest

Das größte Missverständnis basiert wohl auf einer falschen Erwartungshaltung sowie dem Besuch ohne geringste Vorbereitung. Die Ruangrupa, also das kuratierende Kopfkollektiv, hat im Vorfeld fast zwei Jahre lang und an allen Ecken deutlich gemacht, dass im Zentrum weder das Kunstwerk noch ein einzelner Künstler oder die Künstlerin stehen. An die Stelle des Konzeptes vom Einzelkünstler mit genialen Einfällen tritt das Prinzip des gemeinschaftlichen Schaffens und der Teilhabe. Wie in einer Scheune (Lumbung = Reisscheune) werden Ideen, Wissen, Innovation und alle Arten von materiellen und nichtmateriellen Resourcen zusammengetragen und gesammelt. Aus der gleichberechtigten Gemeinschaft, dem Kollektiv heraus, entsteht ein Prozess und genau auf diesem liegt der Schwerpunkt. Wer als Ergebnisse (Harvest = Ernte) der Prozesse nun endlich Kunst erwartet, wird wieder enttäuscht werden. Die Ernte besteht aus der Dokumentation der Prozesse, Texte, Skizzen und Artefakte. Ziemlich klar wird dies sofort im Fridericianum, wo wohl die meisten Besuche und so auch unserer startete. Ein wahres Durcheinander an Notizen auf dem Boden, auf Zetteln und an den Wänden, unzählige Materialen, Halbfertiges in Werkstattatmosphäre zwischen Sitzgruppenelementen (Kissen). Spätestens da ist klar, es wird nicht einfach.

Die Komplexität wird erhöht durch den Fokus auf den “Globalen Süden” (Global South), jedoch nicht dergestalt, dass die Kunst den Globalen Süden abbildet, sondern die eingeladenen Künstlerkollektive selbst kommen ausnahmslos aus den sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer. (Übrigens der Grund, warum fast keine Künstler aus Israel eingeladen sind — schon mal dazu.) Zeigt der Globale Süden denn nun Kunst, Bilder, Malerei, Plastiken, Installationen im Sinne einer Ausstellung wie wir es erwarten? Ja (klein geschrieben) und vielmehr NEIN (groß geschrieben), wir erinnern uns, nicht das Kunstwerk steht im Mittelpunkt. Die Kollektive bringen zwar ihre Kunst mit nach Kassel, vor allem aber bringen sie IHRE Themen mit, welche der Kunst zugrunde liegen. Und diese Themen sind wirklich schwer und erhöhen die Komplexität nochmal deutlich. Es geht um Ausbeutung, Enteignung und Landnahme, Unterdrückung, Hunger und Armut, Krieg, Folter, Vertreibung und Flucht, Rassismus, nur um ein paar Themen zu nennen und zwar geht es ausnahmslos darum.

Ein Beispiel: Im “Rondell”, einem historischen, 15m hohen Kuppelraum, ist es stockdunkel. An die alten Wände werden sich bewegende Pflanzen projiziert, dazu sanfte Flötentöne die computer-generiert live aus Signalen eines vietnamesischen Tan Dao-Wald übertragen werden, lieblich und traumhaft. Hier in der Kühle kann man es aushalten, inmitten der Kasseler Sommerhitze. Nur lautet der Titel der Installation “And They Die A Natural Death” und erinnert an ein Gefangenenlager in diesem Tan Dao-Wald, die Pflanzen sind Chili-Pflanzen, welche die Gefangenen an ihr verlorenes Zuhause erinnern.

Wo ist denn nun die Kunst?

Die Kunst entsteht über Umwege oder sollte ich sagen Unwege? Die Kunst ist geprägt durch die täglichen Erfahrungen der Künstler:innen, diese sind eben nicht Friede, Freude, Eierkuchen und hier kommt wieder der Prozess der Entstehung ins Spiel. Der Weg zum Kunstwerk ist das Ziel? Nein, dieser Weg ist ja nicht freiwillig und er ist steinig, geprägt von Resourcenmangel, Zeitmangel (wer täglich um sein Brot kämpfen muss, hat wenig künstlerische Muße) und dem ständigen Verstecken künstlerischem Tuns vor der Obrigkeit. Dieser Fokus wird auch nicht verwässert durch name dropping bekannter Künstler, der Fetischisierung und vor allem nicht der Kommodifizierung. Man könnte sagen, die Kunst der d15 bietet keine Möglichkeiten dazu, nicht mal wenn man es wollte. Ob man das will oder nicht, der Globale Süden ist nicht mehr auszublenden, die Probleme des Globalen Südens sind nicht mehr auszublenden und die Kunst kann nicht mehr als Versteck dienen, sich in eine Schöne Welt zu versetzen.

In Sachen Resourcenmangel erschien mir Manches als eine Art Ausblick auch für unsere künstlerische oder kunsthandwerkliche Zukunft. Wir bemerken bereits selbst, dass wir nicht mehr aus dem Vollen schöpfen können, Materialen sind nicht mehr verfügbar oder werden unglaublich teuer, siehe aktuelle Holzpreise. Wir werden deutlich sparsamer mit Materialen umgehen müssen und wir werden uns im Kollektiv gegenseitig (aus)helfen müssen.

Das Alles sollte man im Hinterkopf haben, wenn man die einzelnen d15-Stationen besucht. Einfach ist das nicht, ABER es ist wichtig und es lohnt sich. Lässt man sich darauf ein, werden einem die Augen geöffnet. An diesem Punkt ist das Wesen der d15 zu finden.

Nachher weiß man mehr von dem, was man vorher bereits besser wüsste, jedoch genau weiß, dass man es sowieso nicht wissen kann.

Ich hatte mein Aha-Erlebnis am zweiten Tag im Stadtmuseum Kassel, durch die Fotografien des Kollektivs FAFSWAG, die Fotografien thematisieren queeres indigenes Leben. Im ersten Moment war ich fast dankbar für die “normale” Präsentation, eine verständliche Hängung, die künstlerische Qualität der Bilder und die Möglichkeit des üblichen Diskurses (Anlehnung an Paul Gauguin, Referenzen zu bekannten Fotografien, und so weiter und so fort). In diesem Augenblick wurden mir aber meine Denkmuster klar, automatisch sucht man Halt im bereits Bekannten und Bewerteten. Die Fotos hatten aber so viele Ebenen mehr, man sieht sie nur ohne Denkmuster gut. Ein weiterer Schlüssel für die d15 (und anderswo :-) ).

Also Alles gut?

Die d15 bietet eine unglaubliche Fülle an Eindrücken und setzt, da ist der Begriff wieder, Denkprozesse in Gang. Gleichwohl ist manches schon echt ungut gelöst, organisatorisch und inhaltlich. Ich bleibe am Beispiel Prozess. Wenn Du als Besucher:in auf Gekrizzeltes und Skizzen schaust, die vielleicht in einem Künstler-Meeting entstanden sind, bist Du damit nicht gleich Teilnehmer des Prozesses. Es ist wie wenn Du auf die Tafel eines Meetings von Kollegen schaust, bei dem Du nicht dabei warst, Du verstehst fast nur Bahnhof. Prozesse darzustellen und Besucher:innen mit einzubeziegen ist extrem schwierig.
Mir fehlten an vielen Stellen kurze Begleittexte, von mir aus auch per QR-Code in übersichtlicher Art und Weise. Es gibt zwar unzähliche Links und QR-Codes, aber denen folgend findet man den Wald vor lauter Bäumen nicht und das ging nicht nur mir so. Es gibt sehr viele Filme, teilweise dokumentatorisch, teilweise halbdoku, halb künstlerisch. Nur fehlt einem schlicht die Zeit, sich in Ruhe einen Film anzusehen, der eine Stunde oder noch länger dauert. Hier frage ich mich, bei all dem Multimedia und der Vernetzung, warum es nicht alle diese Filme auf der Documenta-Website zum Nachschauen gibt, wegen mir hinter einer Paywall und der Eintrittskarte als Zugang, wenigstens für die kurze Zeit der d15.

Antisemitismus

Ruangrupa, das führende Kollektiv hat wiederum andere Künstlerkollektive eingeladen und diese wiederum andere. So nehmen indirekt über 1400 Künstler:nnen teil. Der berechtigte (!) Vorwurf des Antisemitismus betrifft meines Wissens zwei Kunstwerke und einen Künstler. Die unpassenden Abbildungen wurden entfernt, Ruangrupa hat sich erklärt und entschuldigt, also über was reden wir wirklich?
Lädt man eine fremde Kultur ein für eine offene Betrachtung deren Kunstwelten, sollte man der Möglichkeit anderer Schwerpunkte gewahr sein, anderer Go’s und NoGo’s. Der Dialog wäre eine gute Möglichkeit gewesen, Missverständnisse auszuräumen. Was nun “richtig oder falsch” sein soll, konnten die deutschen Feuilletons aber selbst nicht klären, siehe unter anderem den Streit zwischen Maxim Biller und Eva Menasse. Diejenigen, die dann auch noch den Abbruch der d15 forderten haben sie entweder nicht besucht oder einfach überhaupt nicht verstanden, um was es dort geht. In [1] schreibt Anda Djoehana Wiradikarta: “Es ist unerlässlich, Indonesien bekannt zu machen, was die Shoah ist, die auf dem Archipel zu wenig bekannt ist, und zu erklären, warum sie für das Bewusstsein der westlichen Welt von grundlegender Bedeutung ist. Dennoch ist Antisemitismus für die Indonesier nur eine besondere Form des Rassismus und kein eigenständiger und universeller Begriff.” Das klingt für mich einleuchtend und nicht nach Relativismus.
Warum also die hyperventilierenden Diskussionen über Antisemitismus als fast einziges Thema zur d15. Vielleicht wage ich mich nun etwas weit aus dem Fenster, aber vielleicht war die Komplexität der d15 für die meisten Medien und deren Leser:innen zu groß, das Experiment zu sperrig und die Themen des Globelan Süden (post- und anti-kolonialistische Bewegungen) in dieser Drastigkeit nicht gewollt. Also diskretitiert man eben die gesamte Ausstellung. Okay, gewagte These, gebe ich zu und ich diskutiere das auch gerne. Im einem wirklich informativem Interview [2] argumentiert die Ruangrupa in diese Richtung: “Es ist egal, was wir tun. Im Januar wurden wir schuldig gesprochen, seitdem müssen wir ständig beweisen, dass wir es nicht sind.”. Sie beziehen sich im Vergleich frei auf ein Zitat von Toni Morrison.

“Die Funktion, die sehr ernste Funktion des Rassismus ist die Ablenkung. Er hält dich davon ab, deine Arbeit zu tun. Es lässt dich immer wieder erklären, warum du so bist, wie du bist. Jemand sagt, dass du keine Sprache habest, und du verbringst 20 Jahre damit zu beweisen, dass du sie hast. Jemand sagt, dass dein Kopf nicht richtig geformt sei, also findest du Wissenschaftler, die an der Tatsache arbeiten, dass er es ist. … Aber nichts davon ist notwendig. Es wird immer noch eine weitere Sache geben.“ – Toni Morrison.

Fazit

Ich bin wirklich froh, auf der d15 gewesen zu sein. Von den Eindrücken und Gedanken werde ich noch sehr lange Zeit zehren können. Gleichwohl und das klingt vielleicht widersprüchlich, könnte ich es verstehen, wenn es einem nicht gefällt. Zwei Tage sind ziemlich knapp, drei Tage wären letztlich besser gewesen und ich für mich freue mich auf “Nacharbeit” mit entsprechender Literatur und Netz.

Als Tipp würde ich folgenden geben:

  • Statt Handy lieber ein Tablet mitnehmen und entweder eine power bank oder ein Ladekabel.
  • Taschen zuhause lassen, darf man nämlich nicht mit rein nehmen.